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Auf der
Station ist alles ruhig. Die meisten liegen in den Betten, nur Frau Macka geht
orientierungslos über den
Gang. Sie ist seit drei Wochen hier und
weiß nicht, wo sie ist,
sie wandert durch die
Station und murmelt “Ich bin müde, ich bin müde, ich bin müde”. Unter dauerndem
Stöhnen und in dem gekrümmtesten Gang, den ich jemals gesehen habe, folgt sie
an meinem Arm in ihr Zimmer. 91 Jahre alt ist sie, die Frau Macka. Letzte Woche
soll sie schon gestürzt sein, am Morgen verweigerte sie alle Medikamente, ich
musste sie ihr in den Mund stecken. Sie spuckte sie wieder aus.
Im Zimmer helfe ich ihr, den
Schlafrock auszuziehen.
“Wo soll ich den Schlafrock
hinhängen, Frau Macka?”, frage ich.
“Das weiß ich nicht.”
“Ja, ich weiß es auch
nicht.”
“Fragen S´mich nicht, ich
bin hier das erste Mal”, sagt sie.
Eigentlich trifft das auf mich
zu. Denn gestern war mein erster Tag als Zivildiener auf Station 5B. Ich führe
Frau Macka zum Bett, das sie nicht als ihres wahrnimmt, auch nicht, als ich ihr
zeige, dass darauf ihr Name steht. Mit abziehbarem DYMO Beschriftungsband.
Bevor ihr Name auf einem Grabstein steht, steht er auf dem DYMO
Beschriftungsband, hergestellt von
einem klappernden Gerät, das weiße Buchstaben auf schwarzes Band stanzt, eine
Maschine, die überall dort gebraucht wird, wo Namen schnell zu wechseln sind.
Eine meiner vielen Aufgaben an diesem Tag ist es, den
Namen einer neuen Patientin auszustanzen - nicht einmal, nein viermal: für das
Bett, für die Medikamentendose, für die Frau Oberarzt und das Namensschild vor
der Zimmertür. Man schiebt den Streifen am Namensschild auf der rechten Seite
hinein, sodass das Band mit dem Namen der Verstorbenen auf der linken Seite
hinausgeschoben wird. Was aber, wenn auf der Glasfläche Spuren des alten Namens
zurückbleiben? Nicht der Geist der Toten waltet hier, sondern schlicht ein
Mangel an Sauerstoff zwischen Plastik und Glas, welche mitunter als letzte den Namen eines Menschen
und vielleicht auch die Erinnerung an ihn konservieren.
Die Schwester rät mir, wie
sie sagt, diesen “Schmutz” mit dem Desinfektionsmittel, das in der Toilette
aufliegt, zu reinigen. In der Toilette ist die Flasche mit dem
Desinfektionsmittel allerdings verschwunden. Die Schwester verdächtigt Frau
Pilat, die als 40-Jährige die jüngste Patientin der Station ist, aber auch nur,
weil sie ein Alkoholproblem hierher brachte, die Flasche leergetrunken zu
haben. Gott sei Dank gibt noch genug Desinfektionsmittel auf der Station. In
Kisten wird es gelagert, ein ganzer Stapel ist da, gleich neben dem
Kartonstapel mit Windeln, der fast bis zur Decke reicht.
Mit dem Reinigen des Türschilds vergeht die Zeit bis zum Mittagessen. Ich bin
hungrig. Ich werde mir in der Kantine Suppe, Hauptspeise, Nachspeise um 29
Schilling leisten, dazu einen Krug Wasser, der ist gratis und steht auf jedem
Tisch.
In der Kantine sind nur zwei
Tische besetzt. Derjenige, an dem ich sitze, und der Tisch gegenüber, wo drei
Therapeuten essen. Gekocht wird für 1000 Menschen, für 996 Patienten und uns
vier, die wir als einzige einer Hundertschaft von Ärzten und Schwestern
dasselbe essen wie die Patienten. Ärzte und Schwestern schätzen das Essen der
Kantine nicht, das eigentlich von einem anderen, noch größeren Krankenhaus
angeliefert wird. Zu Unrecht, wie ich meine, denn um 29 Schilling gibt es kaum
ein besseres Menü in der Stadt. Direkt vis-à-vis von mir sitzt eine
Physiotherapeutin, Anfang Vierzig, sie spricht Polnisch, gestikuliert mit
leichten Handbewegungen, besitzt ein kindliches Lächeln. Acht Monate lang werde
ich meine Suppe löffeln und beim Aufsehen sie sehen, acht Monate lang wird sie
meinem Blick ausweichen, und mich doch ansehen, wenn ich wegsehe. Acht Monate
wird sie sich gegenüber ihren beiden Tischgenossen nichts anmerken lassen, acht
Monate lang werde ich sie genauso wenig ansprechen wie sie mich. Zwischendurch,
wenn sie ein paar Tage nicht da sein wird, werde ich mir Sorgen machen um sie.
Ob sie krank sei, verreist ... gar gekündigt: Doch ihr Gesicht wird wieder
auftauchen zwischen dampfenden Haupt- und Nachspeisen, engelshaft, ihr Gesicht
werde ich kennen wie das meiner Mutter. Und dann viel, viel später - werde ich
sie in der U-Bahn sehen und sie ansprechen. Und sie wird sich nicht erinnern an
mich, oder so tun, als würde sie sich nicht erinnern. Dann plötzlich wird es
ihr einfallen wie eine Unwichtigkeit, und mir erzählen, dass sie gekündigt worden
sei, wegen eines Krankenstands zu viel. Ich würde sie nicht angesprochen haben
dürfen. Ich würde mir das Bild eines löffelnden Engels erhalten haben, von
einem Menschen, mit dem man ein stilles Geheimnis teilt.
Wie anders die 28 alten Mädchen auf meiner Station. Die vergessen einen nicht,
die weinen, wenn man geht, und lachen, wenn man kommt. 28 Frauenherzen fliegen
mir zu - unregelmäßig schlagend, meist mit erhöhtem Blutdruck, kaum eines
jünger als 80 Jahre alt.
Nur eine Dame auf der ganzen Station scheint einen Blutdruck wie eine
Zwanzigjährige zu haben. Frau Kadletz, die für ihr Alter von 93 Jahren den
sensationellen Wert von 120 zu 80 vorzuweisen hat.
Für Frau Kadletz gibt es nur
zwei Freuden eines Tages: Des Morgens eine frisch gebackene, knusprige
Kaisersemmel, des Nachmittags ein Spaziergang mit einem Mann. Und da ihre
Männer (drei an der Zahl) allesamt schon tot waren, blieb nur mehr ich.
Im Aufzug zum Erdgeschoß
kämmt sie sich noch ihr schloweißes Haar, das einmal blond gewesen sein dürfte.
Wir gehen erst fünf Minuten im Park, da greift mir Frau Kadletz bereits zum
zweiten Mal in den Schritt. Ich hatte ihr schon am Vormittag, als sie mir mit
dem Stock auf den Hintern klopfte, gesagt, dass ich derlei überfallsartige
Annäherungen nicht schätze. „Ach, sein sie doch ein bisschen beschwingter“,
sagt sie und dreht ihren Stock elegant. Tatsächlich wird ihr Körper von einem
federnden Schritt getragen, gehüllt ist sie meist in einen blitzblauen und
damit weithin sichtbaren Schlafrock, ihr Tempo ist zügig zu nennen. Zuweilen
trägt sie eine nicht unmodische Sonnenbrille mit braun getönten Gläsern.
Allerdings nie im Freien, sondern nur auf der Station, etwa wenn sie
spätnachmittags endlose Runden über die Gänge, vor allem jene der
Männerstationen, dreht. Irritierend daran ist nur, dass es auf den
Stationsgängen keine Fenster gibt.
Frau Kadletz ist eine
schillernde Persönlichkeit, bekommt aber nie Besuch. Ob sie keine Verwandten
mehr habe, frage ich sie, und sie schüttelt den Kopf. „Keine Kinder?“ frage ich.
„Ich hab nie Kinder gehabt. Ich hab immer gesagt, mit mir stirbt die Menschheit
aus”, und sie erzählt, dass sie ihren ersten Mann verlassen habe, gerade weil
der unbedingt Kinder wollte. “Es gibt überhaupt zu viele Menschen auf der
Welt“, erklärt sie mit einem Ausdruck von tiefer Besorgnis, „ich sage Ihnen,
das ist alles die Schuld von der Schlange. Die hat dem Adam gesagt, wo die Eva
ist. Damit hat alles angefangen. Und Gott hat gesagt, zur Strafe mußt du dein
Lebtag am Boden kriechen und Staub fressen.”
Frau Kadletz versucht, so
wenig wie möglich an den Tod zu denken, trotzdem ist er dauernd da, auf der
Station, und auch hinter dem Fenster. Von ihrem Bett aus sieht sie auf den
Hütteldorfer Friedhof, dort ist das Grab ihres zweiten Mannes, jenes Mannes,
den sie geliebt hat. Ob sie neben ihm begraben sein will, frage ich sie. Oh
nein, dafür hat er sie zu oft betrogen. Außer ihr kommt auch niemand ans Grab,
und auch an ihr Grab werde schon gar niemand kommen.
„Und was wollen Sie auf Ihrem Grabstein stehen haben?“
Und dann hebt sie an,
feierlich, mit bedeutungsvoller Tiefe:
“Wanderer,
gehst du vorüber,
so
erkenne,
was Du bist, bin ich einst
gewesen,
was ich bin, wirst du einst werden,
Nahrung
für Würmer und Erden.” -
Auf
der Station wird es Zeit, noch vor dem Abendessen die Windeln der inkontinenten
Patientinnen zu wechseln. Für diese ist nun die letzte Gelegenheit vor dem
Abendessen - um halb fünf am Nachmittag – für einen Stuhlgang. Sollten sie nur
eine halbe Stunde später das Bedürfnis zur Notdurft zu haben, wird das von den
Schwestern als Affront aufgefasst.
Wir sind nur zu zweit, Angelita, eine philippinische Schwester, und ich.
Dementsprechend hoch der Arbeitsaufwand. Angelita verrichtet dabei die
schwerere Arbeit, waschen und Hintern putzen, ich verrichte Assistenzarbeiten
wie Windeln auf- und zumachen, Leintücher wechseln, gebrauchte Windeln in einen
orangefarbenen Müllsack zu werfen, der nach 28 Patientinnen gut gefüllt ist und
von den frischen Ausscheidungen beinahe dampft. Nicht jede Patientin lässt sich
gerne am Unterkörper waschen. Auch nicht jene schwer an Alzheimer leidende
Frau, die immer mit einer Babypuppe im Arm umhergeht. Wie sie so mit ihrer
Puppe rastlos über den Gang hinkt, ist sie eine zutiefst biblische Gestalt, und
sie heißt auch wirklich Maria. Das Kind heißt allerdings Poldi. Maria hat nie
Kinder gehabt, und wenn im Fernseher, der auf dem Stationsgang ständig läuft,
eins auftaucht, egal ob Pippi Langstrumpf oder eine nukleare Missgeburt in den
Nachrichten, sagt Maria “Mei liab!”
Entsprechend schwierig gestaltet es sich, Maria das Kind aus dem Arm zu nehmen,
um sie zu waschen. Sie wehrt sich, schlägt, jammert und weint. Ganz fürsorglich
muss man das Kind nehmen, noch in ihrer Griffweite, dann gibt sie nach. “Sie
machen uns das Leben schwer!” sagt Angelita. “Jo, Sie mir aa!” antwortet Maria.
Plötzlich dringt von draußen vom Gang Geschrei und Gewimmer. Wir laufen hinaus
und Frau Macka, die vorhin noch mit leisen „Ich bin müde“-Sätzen über den Gang
wanderte, liegt am Boden. „Die Kadletz war’s“, schreit Frau Böhm, „die hat ihr
ein Bein gestellt“. Tatächlich geht Frau Kadletz in ihrem blitzblauen
Schlafrock und mit schwingendem Stock von dannen – wieder einmal mit
Sonnenbrille. Wir helfen Frau Macka auf, die nur „Au weh, au weh“ wimmert, und
es ist bereits sichtbar, dass sie sich den rechten Unterarm gebrochen hat. „Des
tut narrisch weh!“ sagt sie und ich glaube es ihr aufs Wort. Der diensthabende
Arzt vom unteren Stock erscheint, und schon bald darauf bringen Sanitäter Frau
Macka in einem Rettungswagen in die nahe gelegene Ambulanz.
Angelita tut den Vorfall als Missgeschick ab, Frau Macka wäre schon so oft
gestürzt in letzter Zeit, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, dass sie
sich verletzt haben würde. Dass Frau Kadletz daran schuld gewesen sei, könne
schon sein, aber Beweise gäbe es keine. Am besten nicht mehr drüber reden.
Nachdem alle Patientinnen
beim Abendessen ausgespeist worden sind, kommt Frau Macka aus dem Spital
zurück. Sie trägt einen großen Gips und ist sehr schwach. Ich helfe ihr ins
Bett und frage sie, was sie essen will. Gar nichts, sagt sie, doch ich stelle
ihr trotzdem eine große Portion warmen, verlockend duftenden Apfelstrudel hin.
Natürlich muss sie gefüttert werden, doch das Ganze geht so langsam vor sich, dass
ich die Geduld verliere. Zehn Minuten vergehen, bis sie drei Bissen
heruntergeschluckt hat. Ich habe schon lange Dienstschluss, zudem hat das
Wochenende begonnen. Ich verabreiche ihr zwei weitere Gabeln, die aber mit den
vorherigen auch nicht mehr als die sprichwörtliche Füllung des hohlen Zahnes
ausmachen, und gehe dann.
Im Bus dann habe ich ein schlechtes Gewissen. Die Frau bricht sich den Arm,
kann kein Besteck halten und ich lasse sie hungrig schlafen gehen.
Am
Abend dann ist alles wieder vergessen. Bis auf die kleinen Momente. Gerade wenn
man Gesellschaft ist, kommt mitunter ein ganz stiller Moment, in dem einem
gewahr wird, dass man am Montag wieder ins Krankenhaus muss, und man denkt an
die, die jetzt im dumpfen Schein des Nachtlichts liegen, viele in ihrem eigenen
Kot, darauf wartend, dass man sie nach zehn Stunden wieder davon befreit. Und
man fühlt es als Privileg, nicht bei ihnen zu sein, wenn sie auch manchmal wie
eines Theaters Darsteller wirken, welche auf- und abtreten.
Plötzlich hat sich auch mein Reinlichkeitsbedürfnis schlagartig verändert, ich
verwende mehr Aufmerksamkeit für Körperpflege und auch für Parfüms, obgleich es
unverfänglich wäre, ungewaschen und stinkend zur Arbeit zu erscheinen. Doch die
Sauberkeit, die eigene Sterilität ist ein Selbstschutz, schon beim Betreten des
Aufzugs am Morgen, wo in jeder Stahlbetonritze der Geruch nach Mensch, Schweiß,
Blut und Urin, vermischt mit Desinfektionsmitteln, hängt. Die Sauberkeit ist
ein Schutzanzug gegenüber den Menschen, die man anfasst, den Ausscheidungen,
die man verpackt, als Sauberer; ein ganz persönlicher Schutz, weil man dadurch
als Überlegener agiert.
Wenn man das Gebäude wieder verlässt, riecht man ohnehin wieder nach jenen, die
man berührt hat, nach ihrem Schweiß, ihrem Kot, ihrem Urin. Und man ist müde
und legt den Schutzanzug, den man mit der morgendlichen Dusche angezogen hat,
bei der abendlichen Dusche wieder ab.
Montagmorgen
im Schwesternzimmer. Ich komme, als die Nachtschwester den Nachtdienst
dokumentiert. Gegenüber der Frau Oberarzt hört sich dies wie ein Register an,
wer am Vortag wie viel und wie oft Stuhlgang hatte. Die Frau Oberarzt trinkt
Kaffee und ordnet Abführmittel für diese und jene Patientin an. „Wie geht’s
denn der Frau Macka?“ frage ich dazwischen.
„Weißt du nicht?“ fragt Angelita.
Ich
schüttle den Kopf.
„Die Frau Macka ist gestern gestorben“, sagt die Frau Oberarzt, „sie hat sich
einfach aufgegeben, wollte nicht mehr.“
Ich gehe und hole den
Wäschewagen. Schnell und einsam ist sie gestorben, die Frau Macka, an einem
Sonntag. Sie hätte wahrscheinlich nicht mehr viele Sonntage erlebt. Ihr
Lebenswille war schwach und wartete nur auf einen Anlass, der ihn ganz
auslöschte. Und der war in diesem Fall Frau Kadletz mit ihrem Stock. Bestimmt
war Frau Kadletz an ihrem Tod beteiligt, und wenn es nicht Mord war, dann doch
Totschlag. Aber was bewegte die Kadletz dazu? Schlug sie einfach jeden mit
ihrem Stock – ich hatte ihn ja auch gespürt -, oder ging es ihr darum, den
Verwirrten, Schwachen und Kranken, die sie störten, den letzten Stoß zu geben?
2
A n
einem Dezembermorgen sehe ich die Rücken von fünf Damen, die am Fenster
stehen. Alle in Nachthemden
- schweigend, verharrend, beobachtend.
Der erste Schnee fällt auf
die Stadt. Wie Kinder, die dies mit großen Augen begrüßen, stehen sie
verwundert da, vielleicht in Gedanken vertieft, wie oft sie das in ihrem Lebens schon gesehen haben. 78-, 80-mal, jedes Jahr wieder
und nun fühlen, dass es das letzte Mal sein könnte. In diesen Gedanken über den
frisch gefallenen Schnee verbindet sich das Erstaunen des Kindes mit der
Trägheit des alten Wintergefühls.
Je kürzer die Tage werden,
umso mehr Krähen kreisen über dem Pflegeheim. Sie
kommen vom
gegenüberliegenden Stadtteil, auch dort ist ein großes Pflegeheim, fliegen
weiter zu uns, von dort auf
die Psychiatrie und dann weiter zum Friedhof. „Damit sie
noch ein paar Würm kriegen“,
sagt Frau Kadletz.
Heute ist Frau Friedrich angekommen. Es ist bereits das dritte Pflegeheim, das
sie aufnimmt. Ihrem Kommen eilt der Ruf einer furchtbar renitenten Patientin
voraus, und tatsächlich: Frau Friedrich ist ein Monster. Zumindest sieht sie so
aus und benimmt sich auch so. Sie schlägt um sich, vor allem, wenn sie
gewaschen wird. Sie beschimpft die Schwestern mit „Hurensau“ und „Scheißfut“,
und wenn die nichts erwidern, schnauzt sie Frau Friedrich an: “Sag was, du
Null!”
Frau Friedrich wiegt über 100 Kilo. Drei bis vier Pfleger müssen am Morgen bei
ihr sein, obwohl es nur eine Schwester ist, die sie eigentlich wäscht. Der Rest
der Truppe ist damit beschäftigt, sie zu halten. Dann muss sie mit dem
Patientenkran aus dem Bett gehoben werden, denn Frau Friedrich tut keinen
Schritt.Schließlich wird sie am Gang an den Rollstuhl festgebunden und vor den
Fernseher gesetzt. Dort lässt in der Nachmittagsserie Captain Kirk
Fäser-Raketen ausfahren und Frau Friedrich klopft mit dem Plastikbecher auf den
Tisch und schreit „Wasser!“ Ich bringe ihr welches, sie nimmt einen Schluck und
spuckt alles wieder aus.
Frau Friedrich wurde kurz
vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren, am 12.7.1914, und fast scheint mir,
dass seither ihre Rachefäuste für die Ermordung des Thronfolgers auf die
Menschen niedertrommeln. Ihre Beschimpfungen sind durchaus fantasievoll, “Schau mi net an mit deine vier Augen!” zum
Beispiel, mitunter kann sie aber ganz zärtlich werden. Während ich sie halte,
damit sie gewaschen wird, flüstert sie „Ich liebe dich“. Und auch ich liebe
Frau Friedrich. Für ihren Versuch zum Widerstand. Sie hatte ihr Leben lang ein
Milchgeschäft und ich glaube, dass sie immer ein guter Mensch war. Sie ist
hier, lässt sich waschen und bedienen und gleichzeitig hasst sie es. Sie ist
verzweifelt – und einsam. Sitzt vor dem Fernseher, in dem Leutienant Uhura
Befehle gibt, spuckt Wasser und Speisereste.
Frau Kadletz nennt Frau Friedrich einfach nur „das Biest“, hält sich aber von
ihr, die um vieles größer und stärker als sie ist, vorsichtig fern. Frau
Friedrich will, nachdem sie einen ganzen Becher Wasser auf den Gang gespuckt
hat, wieder ins Zimmer zurück. Den Wunsch kann ich ihr nicht erfüllen, laut
Stationsschwester könnte sie sich wundliegen, also muss sie am Gang sitzen
bleiben. Frau Friedrich wird laut und schreit, aber nur eine Weile, dann fügt
sie sich in ihr Schicksal, ist plötzlich wieder zahm und sagt: “Na, zu eich
kumm i nimmer her!”
Ein Kennzeichen eines
mehrmonatigen Aufenthalts in dieser Anstalt ist die schnelle Gewöhnung an den
schnoddrigen Pflegerton, mit dem die Patienten angesprochen werden. Das „Du“
ist schnell zur Hand: “Geh, setz di her!”, “geh gib a Ruh!” Alsbald wird das
Stück Mensch daraus, das es zu füttern und zu waschen gilt. Während ich
Elisabeth, der einzigen österreichischen Schwester der Station, helfe, eine
Patientin vom Bett in den Rollstuhl zu heben, und die aufgeregte Frau anfängt
zu zittern, sagt Elisabeth: “Setz di in dein Mercedes und Abfahrt.” Ausdrücke
aus der Motorbranche sind sehr gebräuchlich für geriatrische Mobilisations- und
Ruhegeräte, wobei der Rollstuhl noch die höhere Mittelklasse darstellt, eine
rollbare Relax-Liege bereits ein „Rolls Royce“ ist, während ein Rollator, also
die fahrbare Gehschule, nur mehr als „Moped“ bezeichnet wird.
Schwester Elisabeth ist in
ihrer Wortwahl nicht zimperlich. Übelriechende Patientinnen begrüßt sie nicht
selten als schleichenden Schas von Nebraska, beim Waschen lässt sie Bemerkungen
wie “Du stinkst wie a Iltis, Oide!”
fallen. Mit Elisabeth muss man selbst Schlitten fahren, sie teilt zwar munter
aus, kann aber nichts einstecken. Eine Patientin sagte einmal zu ihr “Nicht ich
lebe von Ihnen, sondern Sie leben von mir!”, worauf Elisabeth nichts mehr
sagte.
Die Einzige, mit der sich
Elisabeth gut versteht, ist Frau Vellan. Schwester Elisabeth hat das exklusive
Recht, Frau Vellans Hintern auszuwischen. Ich glaube, dass dabei Geld im Spiel
ist. Frau Vellan braucht nur zu läuten und Schwester Elisabeth kommt. Das
passiert mehrmals täglich, Frau Vellan ist dick, ihr Gesäß dementsprechend, die
Verdauung einwandfrei, die Ausscheidung üppig. Wehe, wenn Schwester Elisabeth
einmal nicht da ist. Dann kommandiert Frau Vellan die anderen Schwestern herum
und wenn das Ritual beendet ist, unterbleibt nie Frau Vellans Bemerkung, die
Elisabeth hätte das viel besser gekonnt. Tatsächlich ist der Arbeitsaufwand des
Auswischens bei Frau Vellan ein erheblicher, auch ich hatte schon die Ehre.
Zuerst muss man mit einem stärkeren Papier das Gröbste entfernen und
vorwischen, dann mit einem weicheren Papier nachwischen und schließlich mit
einem feuchten Kleenex die saubere Feinarbeit und Politur vornehmen. Natürlich
war Frau Vellan auch bei mir nicht zufrieden. Die Oberärztin war damals Zeuge
und fragte sie, warum sie sich nicht selbst auswischen könnte. Schließlich
könne sie sich ja auch die Leibschüssel selbst unter den Hintern schieben. Frau
Vellan meinte, sie komme an die betreffende Stelle einfach nicht mehr heran,
ihre Arme seien geschrumpft. Eine glatte Ablenkung von der Tatsache, dass das
Hinterteil sich immer weiter ausbreitete. Doch mit eigenen Diagnosen sind
manche dem medizinischen Personal misstrauisch gegenüberstehende Patienten
nicht sparsam. So ist Frau Vellan überzeugt, dass ihre Morgenmedizin nicht mehr
wirkt, wenn sie ihre Tropfen nur fünf Minuten zu spät bekommt. Wer ihr nicht um
viertel acht die Verdauungstropfen bringt, hat ausgespielt.
Frau Kadletz ist nicht
glücklich über den Winter. Sie ist jetzt weniger oft im Garten, was allerdings
die Gefahr für Leib und Leben der Patientinnen auf der Station erheblich
erhöht. Es ist zwar zu keinem weiteren Totschlag gekommen, aber immer noch
schwingt Frau Kadletz ihren Stock nicht ungefährlich, und auch ihre verbalen
Äußerungen lassen nichts Gutes erahnen. Wenn Maria mit ihrer Puppe über den
Gang humpelt und Frau Kadletz zu ihr sagt, „Mariechen, du mein Augenstern, ich
habe dich zum Fressen gern“, klingt das eher nach Drohung als Liebkosung. Einer
ihrer Lieblingssätze gegenüber moribunden Patientinnen ist: „Guten Tag, mein
Name ist Schlag, wann darf ich Sie treffen?“
Frau Kadletz ist zweifellos eine Führernatur, obwohl ihr niemand nachfolgt,
geschweige denn nachkommt. Mit ihrem streng zurückfrisierten Haar und dem
strammen Gang wirkt sie wie ein Bulldozer, dem es auszuweichen gilt.
Vor einiger Zeit war der Sohn von Frau Macka hier, um sich zu erkundigen, was
am besagten Tag des Sturzes seiner Mutter wirklich geschehen war. Gerüchte von
einer gewalttätigen Patientin, die seiner Mutter mit dem Stock ein Bein
gestellt hätte, seien an sein Ohr gedrungen. Oberschwester Gabriele wiegelte
gewissenhaft, doch verlogen, ab – so etwas kann gar nicht passiert sein, da
sich die verdächtigte Patientin gar nicht in der Nähe von Frau Macka
aufgehalten habe, außerdem sei immer so viel Personal auf der Station, dass so
ein Vorgang bestimmt beobachtet und noch vor seinem Eintreten verhindert worden
wäre. Warum dann nicht verhindert worden wäre, dass seine Mutter – eben ohne
Zutun einer anderen Patientin – gestürzt war. Das wäre ein dummer Zufall
gewesen, Schwester Angelita wäre gerade ins Zimmer gegangen, als es passiert
war, und schließlich wurde die Sache so dargestellt, dass Frau Macka sich nicht
an die Vereinbarung hielt, nicht ohne Begleitung am Gang zu gehen, und es
dadurch zum Sturz gekommen war. Dass die Schwestern Frau Kadletz deckten, war
nichts anderes als Selbstschutz. Seit
den Vorfällen mit den Todesschwestern von Lainz ist das Misstrauen groß, sodass
Pflegeheime wie Hochsicherheitsgefängnisse gegenüber Neugierigen,
Eindringlingen, Filmteams und kritischen Besuchern abgeschirmt werden. Ich habe
mir zumindest vorgenommen, so weit es in meiner Macht steht, gefährdete
Patientinnen vor dem gewalttätigen Zugriff der Frau Kadletz zu schützen.
Wenn sich Frau Kadletz
erinnert, an ihre Jugend, ist stets Gewalt im Spiel. Über die Bombennächte, die
Leichen, die sie gesehen hat, die Hungersnot
berichtet
sie mit gefasstem Ernst, aber ohne jede Anteilnahme. Nur einmal wird sie
traurig, dann gelangt Wasser in ihre Augen: “Da hab ich gearbeitet in der
Meidlinger Hauptstraße, in einer Fabrik. Da haben wir Horchgeräte für
Bordfunker hergestellt. Mit so großen Schraubenziehern", und sie reißt die
Arme auseinander, sodass sie wohl eine Länge von 1,20 Meter meint, "und da
ist immer ein Radio gelaufen, und einmal bin ich da gesessen und da haben sie
im Radio den Namen von meinem Bruder gesagt, und dass er gefallen ist bei
Lemberg. Ich frag den Meister, wieso sagen die mir das übers Radio, da sagt er,
das sagen sie jetzt immer durch, das kann man überall hören." Und dann sei
sie heimgegangen und habe immer noch nicht geglaubt, dass das stimmen könnte,
denn im Radio sprachen sie ja vieles, vor allem dieser eine da, der Hitler,
doch zuhause hatte die Mutter schon die Nachricht gehabt: "Tu nicht
weinen, tu beten, dann wirst du vergessen“, hat sie gesagt. „Und
?" schaut mich Frau Kadletz fragend an: "Was hat mir das Beten geholfen ? Gar
nichts. Ich weiß es heute noch...” .
Die Schuhe waren das Einzige, das ihr von ihrem Bruder blieb. Am Kriegsende
lief sie, in Ermangelung eigener Schuhe, mit diesen herum, obwohl sie um drei
Nummern größer waren. Den Größenunterschied hat sie mit Zeitungspapier
ausgeglichen. Die Schuhe hatte sie lange noch im Schuhkastl.
Ob sie damals nicht genug gehabt hätte vom Hitler und den Nazis, als sie das
erlebt hatte. Nein, das waren halt noch Zeiten, wo die Männer noch stramm und
schneidig waren. Da sei sie auch aufgetreten, das erste und einzige Mal in
ihrem Leben, beim Sportlerball, da haben sie erst „Hipp hipp hurra“ und dann
„Heil Hitler“ gerufen. Und dann haben sie getanzt, in so engen Hosen, die waren
damals noch ganz neu, wie hießen die noch gleich, Trainingshosen, genau.
Noch hat Frau Kadletz sehr wenig über ihre drei Männer
gesprochen, und es ist auch schwer, etwas aus ihr herauszubekommen. Natürlich
verdächtige ich sie, dass sie den einen oder anderen umgebracht hat. Wenngleich
sie erzählt, dass sie den ersten verließ, weil er Kinder von ihr wollte. Den
hätte sie auch nie geliebt. „Es gab in meinem Leben überhaupt nur zwei Männer,
die ich geliebt hab. Mein zweiten Mann, der war viel älter als ich, den hab ich
gekannt, seit ich sechs Jahre alt war, der war fast so wie ein Onkel. Aber dann
hat er mir etwas angetan, das hab ich nicht gern gehabt. Und da hab ich mir
gesagt, ich will auch von dem kein Kind. Und ich weiß genau, wo mein Mann am
Friedhof liegt, aber ich geh ihn nicht besuchen. Noch nie war ich dort!“
„Und der zweite Mann, den
sie liebten ... ?“ frage ich..
„Das sind Sie
!“
Und dabei greift sie herzhaft über meinen Oberschenkel und kommt erst bei den
Hoden zu stehen, die sie mit herzhaftem Lächeln in ihren Handflächen
wiegt.
Frau Kadletz liebt mich, ich
aber liebe Frau Friedrich. Sie schlägt mich nach wie vor jeden Morgen, wenn sie
gewaschen wird, immer stärker und fester, und wenn ich sie frage „Warum
schlagen Sie mich?“ sagt sie, „weil ich dich liebe!“
Wir versuchen einmal, sie
nicht mit dem Patientenkran aus dem Bett zu holen. Jemanden derart mit Gurten
an einer Hebevorrichtung durch den Raum zu hieven wie ein wildes, zu schweres
Tier, das in den Zoo verfrachtet wird, hat mehr als Entwürdigendes an sich.
Natürlich schreit Frau Friedrich in der Luft hängend noch lauter als sonst –
sie selbst weiß genauso wie ich, dass es möglich sein müsste, sie mit den
Beinen voraus aus dem Bett zu heben. Als wir es zu viert versuchen, schlägt sie
aber weiter um sich, macht sich so schwer, setzt ihre Füße nicht auf den Boden,
dass es nicht ohne Verletzungen abgeht. Schwester Desanca blutet aus der Nase,
Frau Friedrich selbst schürft sich am Gitterbett die Hand auf.
Die Frau Oberarzt, die Zeugin des Vorfalls wird, reagiert sofort und
verschreibt Frau Friedrich Psychopax, ein starkes Beruhigungsmittel, das andere
Patientinnen tagelang außer Gefecht setzt. Doch bei Frau Friedrich scheint es
keinerlei Wirkung zu zeigen. Wie ein Tier, das unter Betäubung weiterkämpft,
sitzt sie am Gang und schreit: “Pfleger, führen S´ mi ins Zimmer.”
„Was machen S’ denn im
Zimmer die ganze Zeit ?“
“Im Bett liegen.“
“Und was machen Sie im Bett?“
„Mei Fut angreifn.“
Frau Friedrichs Offenheit
ist entwaffnend, in Wirklichkeit will sie ins Bett, weil dieser Ort fürs
Sterben ihrer Ansicht nach der angemessenste wäre. Frau Friedrich glaubt, dass
sie ins Fegefeuer kommen wird, in so ein Zwischenreich zwischen Himmel und
Hölle. An den Herrgott glaubt sie schon, zumindest hat sie immer brav die
Kirchensteuer gezahlt!
An einem Tag liegt Frau Friedrich ganz ruhig im Bett,
aus ihrem Mund kommt Schaum, begleitet von unartikulierten Lauten. Die
Oberärztin sagt, Frau Friedrich kann heute im Bett bleiben. Der Grund dafür ist
auf ihrem Patientenbericht zu lesen: “Wegen dauernder Unruhe Furanxol 20 mg“. Frau
Friedrich hat eine Depotspritze bekommen, anstandslos lässt sie sich waschen,
versucht sich zu bewegen, was aber nicht gelingt.
Frau Friedrich wurde ruhig gestellt, und der wirkliche Grund war, dass an
diesem Tag die Weihnachstfeier stattfinden sollte. An der alle teilnehmen, und
Frau Friedrich sollte doch auch ruhig und friedlich die Adventstimmung genießen
können.
Alle Tische der Station, gottlob sind sie industriell gefertigt und alle gleich
hoch, werden im Gang aneinander gestellt, die Patienten nehmen Platz. Es ist
inzwischen Nachmittag und Frau Friedrich ist aus ihrer Betäubung erwacht. Ihr
Bett wird ebenso auf den Gang gestellt, sie nimmt an der Feier liegend teil.
Unverständliche, leise Schimpfworte kommen aus ihrem Mund, sie greift nach dem
Handtuch, das am Gitterbett liegt, und hängt es über das Haltekreuz des Bettes,
genau vor ihre Augen. Sie möchte niemanden sehen.
Während der Feier kommt langsam wieder Leben in Frau Friedrich. Sie isst
Kletzenbrot und Kekse, dazu trinkt sie Kaffee, den sie aber wieder ausspuckt.
Eine Kindergruppe erscheint und singt Weihnachtslieder, die alten Damen stimmen
unter Tränen mit ein. Frau Friedrich tippt ungeduldig mit den Fingern, aber sie
verhält sich ruhig. Als dann ein Angehöriger, der 50-jährige Sohn von Frau
Zach, eine Weihnachtsgeschichte vorliest, schreit Frau Friedrich plötzlich los:
“Wie lang dauert das denn noch ? Schwester! Schwester!
Bringen S´mi zruck ins Zimmer ! Schwester !” Und das
mit einer Mark und Bein durchdringenden Stimme, dass selbst Frau Jelinek, die
so gut wie nichts hört, erschrocken aufsieht.
Oberschwester Gabriele veranlasst, dass Frau Friedrich weggeschoben wird, Herr
Zach ist unangenehm berührt und setzt seine Geschichte fort. Seine Beteiligung
ist sehr wichtig, schließlich spendet er jedes Jahr mehrere tausend Schilling.
Dann geht die Weihnachtsfeier zu Ende und Schwester Gabriele wünscht noch jedem
ein frohes Fest. Schön sei’s wieder gewesen, sagen viele, nur Frau Kadletz ist
kritisch: Warum der Weihnachtsbaum denn nicht echt sei, sondern aus Plastik.
Schwester Gabriele sagt kraft ihrer ganzen Logik, dass sich unser Baum auch am
längsten von allen Stationen halten werde, außerdem könne man ihn im nächsten
Jahr wiederverwenden. Ich pflichte ihr bei, der Baum wird uns noch alle überleben.
3
H aldol,
Dorminal, Lexitosil, Tramal und Mogadon. Das sind die Begleiter der
meisten Damen, durch den immergleichen Tag eines zu
Ende gehenden Lebens. Jenes
Leben, das im Gitterbett begann und jetzt dort endet.
Und so werden viele Patientinnen
immer regressiver. Doch bevor sie zu spielen anfangen,
bekommen sie Buronil, Alotan,
Vental – am Karlsplatz würden sie sich drum reißen,
die Junkies. Auch Antimon Arsen
wird gegeben, das klingt schon nach Tod. Oder
Furanxol, wie bei Frau Friedrich, die
aber schon bald immun gegen alles wird, was man ihr
gibt. Nein, im Gegenteil, sie ist
sogar besser gelaunt, keine Spur von Dämpfung, macht
boshafte Späße über andere und
lacht minutenlang darüber.
Mein Hauptjob ist mittlerweile das Mobilisieren von Patientinnen. Sie gehen auf
mich gestützt den Gang auf und ab. Für manche ist es Schwerstarbeit, zu lange
sind sie gelegen, zu wenig Kraft, zu schwache Muskeln tragen den Körper über das grünliche, stets blank
geputzte Linoleum.
Frau Zach ist besonders
ehrgeizig, sie hat nach einem Schlaganfall Lähmungserscheinungen, kann aber
jetzt wieder einen Fuß vor den anderen setzen. Ich gehe mit ihr jeweils am
Vormittag und Nachmittag vier Mal auf und ab. Nach der dritten Runde verlassen
Frau Zach die Kräfte, sie knickt ab und zu ein, ist ganz erschrocken, und ich
sage „Weiter! Ich halte sie schon“, worüber ich mir übrigens keineswegs sicher
bin. Bei der letzten Runde begegnet uns dann Herr Zach, der seine Mutter
halbherzig und mich unfreundlich begrüßt. Er bittet mich, seine Mutter in den
Rollstuhl zu setzen, und richtet sich seine gelbe Krawatte, auf der Elefanten
abgebildet sind.
Ich gehe in die Mittagspause. Dabei muss ich die Männerstation durchqueren. Die
Herren haben sich mitunter einen gesunden Humor erhalten. Ich gehe am
Fernseher vorbei, in dem der Herrenslalom von Madonna di Campiglio übertragen
wird. Ich frage: “Wie steht´s ?”. Die Antwort: “1:0”.
In der Kantine sehe ich zum hundertsten Mal in das
kauende Gesicht der polnischen Physiotherapeutin, wenngleich es etwas Neues
gibt, das meinen Blick ablenkt. Die Köchin hat seit kurzem einen Kanarienvögel in einem Käfig, das arme Tier ist aber ein
Krüppel. Die Krallen der Beine sind vollkommen verbogen. Der Vogel kann sich an
den Sprossen nicht festhalten und fällt immer wieder unter lautem Geschrei
herunter. Das passt zum Altersheim, sagt die Köchin lachend. Die Uhr im
Speisesaal ist stehen geblieben, ich bin mir nicht sicher, ob sie jemals
funktioniert hat.
Als ich wieder auf die Station komme, ist Herr Zach mit der Oberschwester und
der Frau Oberarzt in ein Streitgespräch verwickelt. Herr Zach empört sich, dass
er sich nun selbst davon überzeugen musste, dass seine Mutter täglich zweimal
den Gang rauf- und runtergejagt werde.
„Glauben Sie nicht, dass der
alte Mensch in seinen letzten Jahren ein
Recht auf Ruhe und Würde hat?“ Die Frau Oberarzt stimmt zu und sagt, dass es
der Frau Zach auch deutlich besser gehe, seit sie mobilisiert werde.
„Schauen Sie, meine Mutter
erwartet nichts mehr von der Welt“, sagt
jetzt Herr Zach, „alles, was sie in ihrem Leben aufgebaut hat, wird in gute
Hände gelegt.“
In seine, wie ich ahne, und was ich weiß ist noch viel mehr, dass Frau Zach
nämlich zwei Häuser besitzt. „Wir sollen sie also im Bett lassen?“ fragt
Oberschwester Gabriele. „Jo“, sagt Herr Zach, „sie will nicht mehr, merken Sie
das nicht?“ Und dann leiser: „Vielleicht wissen Sie das nicht, aber ich komme
seit sieben Jahren her, und ich spende jedes Jahr zu Weihnachten 10.000
Schilling. Mir ist ja egal, was Sie damit machen. Kaufen Sie sich meinetwegen
ein schönes Gerät, aber lassen Sie meine Mutter in Ruh!“ Schweiß hat sich auf
seinem blauen Hemd gebildet, am stärksten unter der Elefanten-Krawatte.
Schwester Gabriele, die ganz besorgt geworden ist, hat sich mit der Frau
Oberärztin zurückgezogen, dann wird eine Entscheidung gefällt – eine der
wenigen richtigen in meiner Zeit als Zivildiener: Ich soll weitermachen mit der
Mobilisation von Frau Zach.
Rehabilitation im Altersheim ist mit vielen Rückschlägen verbunden, auch Frau
Zach mutet sich mehr zu, als sie zu leisten imstande ist. Drei Wochen, nachdem
wir mit der Mobilisation begonnen haben, ist noch kein Fortschritt
festzustellen, es gibt sogar Tage, an denen wir weniger als vier Runden
schaffen. Frau Zach glaubt an einen Fluch oder an heimtückische, höhere
Einflussnahme. „Hier hab ich das Gehen verloren!“ zeigt sie auf einen Punkt am
Boden und ist verzweifelt. Frau Kadletz ist da wenig hilfreich, sie rät Frau
Zach solle sich nicht plagen, da das ganze Leben sowieso keinen Sinn habe.
Manchmal lockere ich meinen Griff unter der Achsel und lasse Frau Zach ohne
Hilfe gehen. Dabei wäre sie einmal fast mit Frau Kadletz zusammengestoßen,
wobei ich nicht umhin kann, anzunehmen, dass Frau Kadletz dies absichtlich arrangiert
hatte. Jedenfalls schimpfte die Kadletz herum und meinte dann beiläufig im
Weggehen, und zwar so, dass niemand ihr Grinsen sehen konnte: “Folgst du nicht
zur rechten Zeit, steht der Stock für dich bereit.”
Eines Morgens überrascht mich Frau Friedrich mit dem Ansinnen, sie möchte
alleine aufstehen und auf den Gang gehen. Vielleicht, weil ich ihr am
Nachmittag des vorigen Tages, als ich es wieder einmal ablehnen musste, sie vom
Gang in das Zimmer zu bringen, gesagt hatte, sie könne nur dorthin gehen, wenn
sie sich auch selbst bewege.
Und nun will sie es versuchen. Tatsächlich kann sie am Boden stehen, zittrig
und ihr ganzer massiger Körper schwankt wie eine Boje im Wasser, aber sie hält
sich mit eisernem Griff am Gitter, an der Tür, an den Schwestern und an mir
fest, sodass ich glaube, diesen Vorgang nicht ohne Quetschung überstehen zu
können. Doch sie schafft es, ihre Füße tragen sie auf den Gang hinaus, und Frau
Friedrich lacht, man sieht zum ersten Mal, dass sie nur mehr vier Zähne hat,
sie umarmt mich, und ich liebe sie. Ich sitze mit ihr draußen, ich ermuntere
sie, das jetzt jeden Tag zu versuchen. Die Frau Oberarzt sagt, sowas habe sie
noch nie erlebt.
Nachdem auch am zweiten Tag Frau Friedrich einige Schritte von selbst macht,
ergreife ich die Initiative und schlage vor, sie zu dem heute vorgesehenen
Liedernachmittag mitzunehmen. Die Schwestern, die von Frau Friedrich immer noch
täglich als „Huren“ beschimpft werden, sind wenig begeistert. Ein Mehr an
Arbeitsaufwand, den ich aber allein zu übernehmen bereit bin. Und so bringe ich
Frau Friedrich im Rollstuhl ins Erdgeschoß, hinaus in den Garten, wo in einem
Pavillon die Veranstaltung vonstatten geht. Frau Friedrich hält sich die Hand
vor das Gesicht. Die Sonne ist zu stark, in zwei Jahren wäre sie jetzt erst das
zweite Mal im Freien.
Hochstimmung dann im Pavillon, als die Rollstühle an
die Tische geführt werden. Es treten auf: ein aufdringlicher, stimmloser Sänger
und eine hübsche, nicht unbegabte Sopranistin. Einige Damen und Herren haben
sich richtig fesch gemacht, Schmuck angelegt und geschminkt. Ein Solo der
Sopranistin ist besonders herzzereißend, sie singt das rührselige Wienerlied „O
du mein liebes, liebes Tschopperl!“ und angesichts der sabbernden Riege auf den
ersten Tischen, bricht die Sängerin in Tränen aus. Aber schon beim nächsten
Lied folgen ihr alle Patientinnen in einem Weinkrampf nach, denn bei
„Brüderlein Fein“ gibt es kein Halten mehr. Der aufdringliche, stimmlose Sänger
kann darauf nur in der Art eines Entertainers, aber doch mit bewegter Stimme,
sagen, dass das Publikum das beste gewesen sei, das er
je erlebt habe.
Frau Friedrich lässt das unbeeindruckt, sie hört ohnehin nicht mehr so gut. Ob
es ihr nicht gefällt, frage ich sie. „Jo scho, aber i bin net richtig anzogen.“
Sie möchte gehen, und auch die Bemerkung ihrer Nachbarin „Is doch tadellos, der
Schlafrock ...“ hält sie von ihrem Vorhaben nicht ab. Während „Stellt’s meine
Roß in Stall“ gesungen wird, schiebe ich sie hinaus, und setze mich mit ihr in
den Garten.
Während Frau Friedrich sehr
schweigsam einfach nur den Vögeln auf den Bäumen nachschaut, sehe ich, wie ein
Krankenwagen einfährt und bis ans Portal fährt. Ich beschließe, nach dem fast
zweistündigen Ausflug mit Frau Friedrich auf die Station zurückzukehren. Wir
warten vor dem Aufzug, der stets besetzt ist, Frau Friedrich amüsiert sich noch
über den in das blaue Metall eingeritzten Spruch „Am besten ist der Yugo-Hugo“,
als sich die Aufzugstüre öffnet, und zwei Rotkreuz-Männer mit einer Bahre
herausfahren. Darauf liegt Frau Zach, hinter ihr Oberschwester Gabriele. „Gstürzt ist sie“, sagt Gabriele, ich beuge mich über
Frau Zach, die nur stammelt: „Die Stiegn runter - ... die ganze Stiegn runter
... die Kadletz war’s ... mit dem Stock...“
4
S eit
einer Woche ist Frau Zach nicht mehr auf der Station: Sie liegt mit einem
Oberschenkelhalsbruch in
einem anderen Krankenhaus. Sie kann sich nicht bewegen, sie wird sich
wundliegen, ihre Wunden werden eitern und dann zu faulen beginnen, werden
riechen unangenehmer als Erbrochenes oder Kot, Frau Zach wird nie wieder gehen
können.
Schuld daran ist Frau Kadletz, „aber eigentlich sie selbst“, wie Oberschwester
Gabriele sagt. Sie sei von selbst aufgestanden, noch dazu zur Stiege gegangen,
was man ihr ausdrücklich verboten hätte. Dort sei sie mit Frau Kadletz
zusammengetroffen und was dort passiert sei, wisse man nicht. Zeugen gäbe es ja
keine, auf jeden Fall hätte sie die Kadletz mit dem Stock berührt, geschlagen
gar, sodass sie den ganzen ersten Stiegenabsatz, nicht weniger als 12 Stufen,
hinuntergefallen wäre. Ein Wunder, dass sie es überhaupt überlebt hatte.
Der Kadletz habe man den Stock nun weggenommen. Der sei jetzt versperrt in
einem Kasten der Schwester. Gleich am ersten Tag habe sie ihn zurückgewollt,
aber man müsse jetzt hart bleiben. Es würde schon unangenehm gegenüber den
Angehörigen werden, wenngleich Herr Zach gleich ein paar Tage später mit Blumen
für alle Schwestern und einer großzügigen Geldspende vorbeigekommen wäre.
„Unglück kann alleweil passieren“, soll er gesagt haben.
Der Frühling ist eingezogen. Auch Frau Kadletz blüht auf , ihre Lustgefühle sind erwacht und sie dreht beschwingte Runden durchs
Krankenhaus, vor allem durch die Männerstationen, wo sie sich mitunter mit
einem Herrn ins Badezimmer zurückzieht.
Lange Zeit forschte ich, was Frau Kadletz bewog, ihre
Leidensgenossinnen umzubringen. Nach dem ersten Todesfall mutmaßte ich, dass
Frau Kadletz eifersüchtig auf Frauen war, die älter als sie waren. Ihr erstes
Opfer, Frau Macka, war immerhin ein Jahr älter, und so war ich immer
aufmerksam, wenn ich die Kadletz zusammen mit der über hundertjährigen Frau Josifek sah. Ein Stockwerk tiefer gab es sogar die älteste Wienerin, eine
Dame mit 108 Jahren, und die absurde kriminalistische Theorie stieg in mir auf,
dass Frau Kadletz nach und nach alle Patientinnen, die älter als sie waren,
eliminierte, um irgendwann als „älteste Wienerin“ Ruhm und Reichtum samt
Blumenstrauß und Geschenkkorb vom Bürgermeister zu ernten.
Doch Frau Zach war zehn Jahre jünger, und so blieb nur mehr
das reichlich asoziale Motiv, dass Frau Kadletz der zu ihrer Lebzeit weit
verbreiteten Praxis der Beseitigung - wie es doch damals hieß - alles Schwachen
und Nicht-Lebensfähigen eifrig nachging.Ganz am Schluss hatte ich noch eine andere These. Dass Frau Kadletz, die nichts
mehr am Leben hielt außer der Gedanke an Lust und Sex, diese mörderische
Aufregung benötigte, um sich selbst am Leben zu erhalten. Sie musste anderes
Leben auslöschen, um Abwechslung in ihr eigenes, grau und sinnlos gewordenes,
zu bringen. Der Zweck des Daseins beschäftigte sie ja immerzu, wenn sie jeden,
auch der nicht antworten konnte, fragte : „Wozu wird
man geboren? Dass man dann in eine Kiste gesteckt wird, die wird dann
zugenagelt, die Erde drauf - und das war’s? Wozu soll das bitte gut sein?“
Jetzt war sie ohne Stock unterwegs, übrigens einwandfrei, und doch fehlte etwas
Entscheidendes an ihr, als hätte man ihr einen Arm abgenommen.
Meine Zeit im Pflegeheim
geht dem Ende zu. Ich habe einen Flug mit zwei Wochen Vollpension in einem
Hotel in Dubrovnik gebucht. Noch zehn Tage Dienst, dann werde ich auf Urlaub
fahren. Vielleicht schlafe ich dort auch nur zwei Wochen lang.
Frau Friedrich hat enorme Forschritte gemacht, sie kann jetzt alleine aufstehen
und geht auf den Gang hinaus. Ich bin der Einzige, der ihr dabei Hilfe leisten
kann. Wenn eine andere Schwester hingreift, schimpft Frau Friedrich nur „Putz
di, du Sau!“
Ich sitze mit Frau Friedrich jeden Tag am Gang und schaue am Nachmittag mit ihr
„Reich und schön“. Ich sage ihr, ich werde bald nach Dubrovnik reisen, und sie
fragt immer, wann ich wiederkomme. „Gar nicht mehr“, sage ich, „höchstens zu
Besuch.“ Aber das will Frau Friedrich nicht glauben, sie schreit, ich könne
jemand anderen zum Narren halten. Ich erkläre ihr, dass ich statt Soldat eben
Zivildiener geworden sei, und auch dieser Dienst sein Ende habe. „A so einer
sind Sie!“ sagt sie, und gleich darauf: „Nimm mi mit!“ Unsinnigerweise sage ich
ja, und schwärme ihr vor, wir würden am Abend in der Hotelbar sitzen, Cocktails
trinken, während im Mondschein die Adria rauscht. „Suchen Sie sich besser a
jüngere Frau!“ sagt sie, und jeder von uns beiden weiß, dass sie recht hat.
„Ich würde auch mit Ihnen fahren“, sage ich, doch sie lehnt ab, sie würde auch
in Dubrovnik die Cocktails ausspucken wie hier das Wasser.
Der letzte Tag ist schon wie Urlaub. Ich verteile Geschenke, ich habe von jeder
Dame ein Foto gemacht und teile die Porträts aus. Die meisten stecken das Bild
schnell in eine Schublade, sie wollen nicht sehen, wie alt sie geworden sind.
Auch Frau Kadletz möchte ihr Bild nicht, sondern am liebsten eines von mir.
Frau Friedrich will immer noch nicht wahrhaben, dass ich gehe, Spucke kommt aus
ihrem Mund und Tränen aus den Augen. Als ich ihr erkläre, dass ich, auch wenn ich
wollte, nicht wiederkommen könne, schimpft sie „Schau, dass d‘ weiterkommst!“
Dann gibt sie mir doch etwas, eine Tafel Schokolade, weiß der Teufel, wo sie
die herhat, ich habe bei ihr nie Lebensmittel gesehen.
Die Schwestern schenken mir
eine Flasche Pitralon.
Und dann an der Tür kommt Frau Bartek mit ihrer Handtasche auf mich zugestürmt
und fragt, ob ich sie mitnehme. Ich schüttle den Kopf, und sie sagt, nein,
nein, das sei alles rechtens, denn sie hat ein weißes Band auf ihrem
Handgelenk, da steht „58“ drauf, was ihre Hausnummer sei – „Margaretenstraße
58“, dort gehöre sie hin. Auf dem Band steht „5B“, daneben „Pflegeheim“ und der
Name des Krankenhauses, damit jeder, der Frau Bartek findet, sie wie ein
Haustier zu seinem Besitzer zurückbringt.
Ich gehöre nicht mehr hierher, und doch ist es für acht Monate das erste Mal
gewesen, dass ich mich an einem Platz heimisch gefühlt habe.
Der Flug nach Dubrovnik geht von Graz aus. Jeder
Kilometer, den der Zug von Wien nach Graz zurücklegt, entfernt mich wie eine
Dekade von der Zeit im Pflegeheim. Auf dem Flughafen warten dann nur zwei
Personen auf den Flug nach Dubrovnik. Ein Geschäftsmann und ich. Und dann
jemand Dritter. Eine ältere Dame, nein, eine sehr alte Dame, um die 80, die
aber sehr jugendlich angezogen ist. Rotes Kleid, roter Hut, rote Schminke. Sie
erkundigt sich bei mir, ob dies der Flug nach Dubrovnik sei, und stellt sich
dann als Frau Karoline vor. Wir besteigen gemeinsam das Flugzeug, und obwohl
der Pilot noch auf dem Rollfeld seine drei Passagiere anweist, sich links,
rechts und in der Mitte zu verteilen, damit es zu keinen
Gleichgewichtsproblemen beim Start komme, sitze ich neben Frau Karoline und sie
erzählt mir, dass sie bestimmt zum zehnten Mal nach Dubrovnik fliegt. Dann
heben wir ab.
In Dubrovnik steigen wir im selben Hotel ab, es ist noch Vorsaison, und Frau
Karoline und ich sind die einzigen Gäste. Jeden Tag sitze ich mit ihr beim
Frühstück und Abendessen zusammen, und Frau Karoline erzählt, wie schön es
früher doch war, als sie hier adelige Freunde hatte, die Häuser am Meer hatten,
wie rauschend die Feste waren, dass sie einmal mit Tito zusammengetroffen wäre,
mit dem echten, dem ja ein Fingerglied fehlte, während ein Doppelgänger mit
einer intakten Hand die offiziellen Veranstaltungen absolvierte. All das weiß
Frau Karoline und noch vieles mehr, vor allem, wenn sie etwas getrunken hat.
Abends sitzen wir in der Hotelbar, trinken Cocktails, draußen scheint der Mond
und die Adria rauscht.
Eines Abends übertreibt es Frau Karoline mit dem Trinken. Sie hat auf dem Markt
eine Flasche Kräuterschnaps gekauft und wir trinken das eine und andere
Stamperl auf der Hotelterrasse. Während sie immer wieder nachschenkt, erzählt
sie von ihrem Mann, der – wie sie immer wieder betont – ein Versager war, und
dem es ähnlich sah, dass er schon vor zwanzig Jahren gestorben war, nachdem er
im Badezimmer ausgerutscht war und sich das Genick gebrochen hatte. Wir haben
die Flasche fast leer getrunken, als Frau Karoline fürchterlich zu husten
beginnt. Sie spricht aber immer weiter, auch als ihr auf den Rücken klopfe,
kommt nicht zur Ruhe, spricht und trinkt und hustet, sodass jeder Schluck, den
sie zu sich nimmt, sofort wieder aus ihrem Mund, über die Lippen und das Kinn
rinnt. So sitzt sie da, hustend, spuckend, mit einem nassen Kinn aus Schnaps
und Speichel, und geröteten, weit aufgerissenen Augen. Ich klopfe ihr auf den
Rücken und bemerke, dass das wohl zuviel des Guten war. Als sie nach diesem
Erstickungsanfall wieder zu Luft gekommen ist, pflichtet sie mir bei und lässt
sich auf mich gestützt zum Zimmer begleiten.
Am nächsten Tag erscheint Frau Karoline nicht zum
Frühstück, auch nicht zum Mittagessen. Auch auf ihrem Zimmer ist sie nicht.
Nachdem sie auch nicht zum Abendessen kommt, erkundige ich mich an der Reception
nach ihr. „Abgereist“, sagt der Receptionist, und ich verstehe es nicht und
frage wohin. Das wisse er nicht, und ich bin noch mehr verwirrt. Frau Karoline
wollte, ebenso wie ich, eine weitere Woche bleiben.
Die zweite Woche schlafe ich sehr viel. Am Vormittag
gehe ich an den Strand, mittags ruhe ich, nachmittags schwimme ich einige
Längen im Hotel-Swimmingpool, bevor ich wieder bis zum Abendessen schlafe,
danach eine Flasche Wein trinke, um dann wieder bis zum Morgen durchzuschlafen.
Ein Gewitter geht nieder,
als ich mit dem Flugzeug in Graz lande. Man muss durch den Platzregen über das
Flugfeld laufen, vollkommen durchnässt stehe ich unter dem Dach der Halle. Auch
hier weit und breit keine Frau Karoline.
Zwei Tage später bin ich wieder in Wien. Am frühen Nachmittag mache ich einen
Besuch auf Station 5B. Ich sehe eine Patientin, deren Gesicht ich noch nicht
kenne, das kann nur heißen, dass wieder jemand gestorben ist. Doch viele
Patientinnen kennen mich gar nicht mehr, obwohl ich nur etwas mehr als zwei
Wochen weg war. Sofort erkennt mich aber die Alzheimer-kranke Maria, die noch
immer mit ihrer Puppe den Gang auf- und abgeht. Sie streichelt mich zärtlich
und hält mir „ihr Kind“ hin.
Im Schwesternzimmer erzählt mir Oberschwester Gabriele, sie hätte um einen
neuen Zivildiener angesucht, würde aber heuer keinen mehr bekommen: Das sei
hart, weil das Personal immer knapper werde. Und als ich frage, was es Neues
gäbe, erzählt mir Gabriele, dass Frau Friedrich vor einer Woche gestorben sei.
Das sei wirklich traurig, weil sie doch solche Fortschritte gemacht hatte und
sie wieder gehen konnte. Aber sie wollte nicht mehr, tot sei sie am Morgen im
Bett gelegen. „Dafür haben wir jetzt schon weniger Arbeit“, meint Schwester
Elisabeth und beißt in eine Topfengolatsche. Die Oberärztin sagt mir, dass das
Fehlen einer wichtigen Bezugsperson den letzten Lebenswillen eines Menschen
nehmen kann. Frau Friedrich hätte am Schluss jeden Tag nach mir gefragt, und
als ich nicht mehr kam, wäre sie einfach gestorben.
Ich stehe im Aufzug und frage mich: Bin ich schuld? Ist es Mord? Oder noch
Totschlag? Jemanden die Liebe zu entziehen. So wie man jemanden mit einem Stock
die Beine wegzieht.
Das Pflegeheim erhebt sich fünf Stockwerke hoch, am Nachmittag wirft die
Fassade lange Schatten auf den Hof. Frau Kadletz kommt mir dort entgegen.
Diesmal wieder mit einem Stock. Ausladenden Schrittes kommt sie auf mich zu,
übersieht mich aber, würde an mir vorbeigehen, spräche ich sie nicht an.
„Wie geht es Ihnen, Frau Kadletz ?“
„ Schlecht.“
„Was fehlt Ihnen denn?“
„Ein Mann.“
Dann schüttelt sie mir herzlich die Hand. Mich interessiert, woher sie den
Stock hat und sie erzählt erst lange die Geschichte, die ich schon kenne, dass
der Stock im Kasten der Schwester versperrt wurde und man ihn ihr partout nicht
zurückgeben wollte. Doch dann sei eines Tages ein Mann auf sie zugekommen und
hätte ihr diesen Stock hier gegeben. Der Mann hätte nur gesagt, ‚Du wirst ihn
sicher noch brauchen!‘
„Ich hab den Mann noch nie
gesehen“, rechtfertigt sie sich jetzt ohne Grund vor mir, „und seither auch
nicht mehr.
„Glauben Sie an den Teufel?“ frage ich.
“Glauben Sie, der war’s?“ fragt Frau Kadletz erschrocken zurück.
Ich nicke unbestimmt. Da lacht sie.
„Auf jeden Fall ist es ein schöner Stock.“
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